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Butter bei die Fische

       copyright: © Henny Halbach, Juni 2o14

Ja, so sagt man, wenn es Ernst wird. Und ich kann dieses Kapitel nicht ausschließen. Ich würde mich gerne darum drücken. Wenn ich aber durch dieses Buch Befreiung erfahren möchte, und das will ich, das muss ich, dann kann ich mich nicht hiervor drücken. Nicht weglaufen, wie ich es bisher so gerne tat. Das Weglaufen aber hat mich Jahre meines Lebens gekostet. Und jetzt, da die Jahre weniger werden, und ich daran zweifle, ob sie wertvoller werden, so möchte mich mir die Möglichkeit wenigstens geben, dass ich eine Chance darauf habe, dass sie zumindest klarer werden, nicht von dem vernebelt, was ich noch liegen habe, in den Schubladen ganz unten in meiner Seele. Zu diesem Bewusstsein, dass es die Dinge gibt, die da liegen, kam ich ja erst in letzter Zeit. Ausgelöst von tiefem Vertrauen, was ich erstmals jemandem gab. Ausgelöst von der Überraschung, dass ich mich fallen lassen konnte im vergangenen Jahr, bis auf die letzten Wochen des vergangenen Jahres, wo ich mich nicht mehr fallen ließ. Es war zu auffällig, dass ich mit 45 Jahren erstmals diesen viel besprochenen Höhepunkt in der körperlichen Liebe erfahren hatte. Ich kam erst spät darauf, dass ich ihn deshalb überhaupt erst erfuhr, weil ich so sehr vertraute, so sehr liebte, mich geliebt fühlte UND vertraute, erstmals, und mich ins Endlose fallen lassen konnte. Daher war es so etwas Außergewöhnliches für mich und ich so fixiert darauf.
 
In den vielen Gesprächen mit der einzigen und ersten Person meines echten tiefen Vertrauens kamen Erinnerungen an Erfahrungen auf, die ich VÖLLIG ausgeklammert hatte. Das kann ich nicht sagen. Das ist falsch. Ich hatte ja bis dato keine Erinnerung. Ich hatte Amnesie.
 
Der erste Vorbote meiner aufkommenden Erinnerung meldete sich, während mein Vater auf sein Sterben hoffte, als ich ihn pflegte. Er piepte mich zu sich ins Zimmer. Meinem Vater fehlte die Kraft zum Schreien, er hatte entsetzliche Angst, als er mich am Arm fasste, zu seiner Bettstatt hinunterzog und mir ins Ohr flüsterte, dass ich den schwarzen Mann, der in der Ecke des Zimmers stand, wegscheuchen solle. Er sei schon das zweite Mal da und ich solle ihn endlich rausscheuchen. Die Augen meines Vaters waren vor Angst geweitet. Hervorstehend aus dem eingefallenen edlen Gesicht, machte die Panik in diesen Augen, seine Gesichtszüge jetzt grotesk, weil er dabei mit großer Kraftanstrengung versuchte, den Kopf zu heben und sein dünner lederner Hals, darauf der eingefallene Kopf mit den herausquellenden Augen und der Nase, die sich jetzt, einige Stunden vor dem Ende, zum Mund hin nach unten bog. Er sah aus wie ein Adler jetzt. Sein Haar war immer noch schön. Angst kannte ich von meinem Vater nicht. Ich nahm ihn sehr Ernst und verjagte den schwarzen Mann indem ich ihm das dicke Buch, aus dem ich meinem Vater vorlas, über den Schädel schlug. Ich schubste und trat ihn. Er war jetzt verschwunden, wie ich an den sich entzerrenden, entspannenden, ruhiger wirkenden Gesichtszügen meines Vaters erkennen konnte.
 
Der schwarze Mann war mir nicht unbekannt. In meiner Erinnerung erschien vage ein Bild davon, wie er aussah, als er vor mir stand in der Nacht damals. Er war real. Wie bei meinem Vater. Er stand erst am Fußende meines schönen Bettes. Ich begann alles nach ihm zu schmeißen, was auf meiner Nachtkonsole lag. Schwere Bücher konnten ihm nichts anhaben. In größter Panik fasste ich meine Bettdecke und warf sie über ihn. Irgendwie schien er jetzt geschwächt, wir waren nicht mehr allein im Raum. Dann ging er ein Stück zur Seite herum. Ich trat nach ihm und fühlte wie eisenhart die Muskeln an seinem Bauch waren. Die Kinder waren zu mir heraufgekommen und standen in ihren Hemdchen an der anderen Seite der Schräge meiner Dach-Kemenate und schauten. Sie waren wie vom Donner gerührt. "Warum schreist du so laut, Mama?" Ich war schweißnass und drehte meinen Kopf zu ihnen, während ich die Decke noch in meinen Händen hielt. Ich stand aufrecht im Bett, die Decke hoch erhoben. Im Zimmer, lagen aufgeblättert einige dicke Bücher. Ich erinnere mich daran, wie fragend, überrascht ihre Gesichtchen waren. Sie waren verwirrt, so hatten sie mich noch nie erlebt: Ratlos, schockiert, völlig entrückt. "Ach, nichts, ich habe wohl geträumt, Kinder, es ist nichts." Ich strich mir das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. "Kommt, ich bringe euch wieder nach unten, ins Bett." Wir stiegen die weiße Wendeltreppe mit den knarrenden Buchen-Stufen hinunter und ich war froh über diese Realität, meine Kinder in die Betten verfrachten zu können. Sie schliefen gleich wieder ein. Ich aber traute mich nicht mehr nach oben, blieb unten in dem großen Wohnzimmer, wo alle Fenster bodentief, zweiflügelig waren, davor nur Panzerglas. Ich hatte einst alles so entworfen und es war licht durchflutet tags und funkelnd in der Nacht. Diese loft war mein Baby. Hier fühlte ich mich wohl. Von hier aus schaute ich jetzt auf die Lichter, auf das Funkeln der Wellen im Fluss am Ende des Grundstücks. Ich liebte das Wiegen der Birke vor meinen Fenstern, ihr leises Rascheln. Oft hörte ich die Nachtigall. Es erinnerte mich an Zuhause, da, wo ich aufwuchs und war mir vertraute Geborgenheit. Die Natur barg mich und hütete mich. In der freien Wildnis habe ich noch nie Angst gehabt. Wenn ich nachts durch die Heide ritt und der Mond voll am Himmel stand, dann fühlte ich mich behütet. Wenn ich durch stock finsteren Wald ritt, war der Frieden in mir. Jetzt saß mir etwas im Nacken. Aber ich wusste nicht, was. Ich legte mich unten, nah der Birke vor dem Fenster, auf das Sofa. Der Wecker von oben, aus meiner Kemenate, holte mich, wie jeden Morgen, um 06:15 Uhr zurück ins Leben und so reihte sich, wie das ganze Jahr davor und auch danach, nach dem schwarzen Mann, ein Tag an den anderen. Arbeit und Kinder forderten mich rund um die Uhr. Ich hatte ihn vergessen. Den schwarzen Mann.
 
Gerade jetzt in den letzten Tagen mache ich mir Gedanken über ihn. Er kam noch einmal wieder. Und ging wieder. Ich dachte an meinen Vater. Er hatte mir in den letzten Tagen vor seinem Tod immer wieder davon erzählt, wie die letzte Zeit im Lager war. Dass er mit seinen Mitgefangenen den Tau von den Zeltplanen leckte, um Wasser zu bekommen. Manchmal schrie er, soweit es ihm noch möglich war, zu schreien, nach einer Pampelmuse oder einer Apfelsine in den Stunden vor seinem Tod, um sie mir aus der Hand zu reißen und seine Zähne in sie zu schlagen. Er war ein Sterbender mit der Kraft eines Tieres in der Wildnis, was um den letzten Tropfen aus dem Wasserloch kämpft. Sein Blick war irre, weil seine Augen ja so hervorquollen. Dabei war nur sein Kopf eben nur noch Schädel, um den die Haut sich zog, seine Augen nur noch Höhlen mit dem Lebendigen darin, was auf die Frucht starrte. Ich liebte ihn und er tat mir so Leid, weil ich mich erschreckte und ich hoffte so sehr, er würde meinen Schrecken nicht sehen in meinen Augen. Er sorgte sich bis zur letzten Sekunde um mich und ich wollte nicht, dass er sich sorgte. Ich denke mir nun, was mag er erlebt haben in dem Krieg, in den er als Sechzehnjähriger zog, dass er solche Angst vor dem Teufel hatte. Er hatte ihn schon vorher einmal gesehen, in diesen Kriegstagen damals, so, wie auch ich ihn schon einmal gesehen hatte, in der Nacht damals, an die ich mich jetzt begann zu erinnern. Alles, was so voller Grauen ist, dass wir es uns nicht erklären können, erklären wir uns in unserer Not und Seelenqual durch die Existenz Satans. Wir wissen, als Christen, dass es ihn gibt. Und nur er kann es also sein, der uns das Grauen geschickt hat. Anders können wir kleinen menschlichen Wesen es nicht ertragen, damit nicht umgehen. Jeder, der besonders Schlimmes erlebt hat, wird diese Begegnung gehabt haben, da bin ich mir sicher. Ich kenne noch jemanden, der diesen Kampf mit dem Teufel geführt hat. Ich habe ihn dabei gesehen. Er schrie auch. Einen Mann, der fast zwei Meter groß ist, ein unglaubliches Muskel-Paket, sah ich im Kampf mit dem Unsichtbaren. Er hatte Schlimmstes erlebt, als er Schuld auf sich geladen hatte. Ich wusste von der Schuld. Ihm war sie noch nicht wirklich bewusst. Sie lag schlummernd im Unterbewussten. Ich habe diesen Mann nie gefragt, ob er zum Bewusstsein vorgedrungen ist. Ich werde es auch nicht tun. Es ist für die, die die Erfahrung noch nicht gemacht haben - und sie hoffentlich nie machen werden - unglaubwürdig. Aber es ist so. Es gibt diese Begegnungen.
 
Warum also diese eigenartige Erfahrung? Ich hatte mich natürlich nie soweit vorgetraut, nie so viel Energie aufgewandt, zu fragen, warum? Woher? Jetzt, nach der Erfahrung des Vertrauens, nach dem Aufweichen der dicken Wände der Kammern, der Verliese, in denen die Erinnerungen lagen, jetzt, nachdem alles einmal in mein Bewusstsein hervorgedrungen ist, kann ich die Erlebnisse nicht wieder dahin verbannen. Nicht wieder hineinstoßen in die hintersten Kammern meiner Seele. Es funktioniert nicht mehr, wegzulaufen, abzuhauen. An jedem Ort, an den ich zu fliehen versuche, bin ich selbst zugegen, so lange ich lebe. Ich kann jetzt also nicht mehr anders, als darüber zu reden. Wie einen Hund, den der dumme Besitzer, in mit der Nase in seinen eigenen Kot drückt, so bleibt mir nichts anderes, als hinzufühlen, wo ich nicht hingucken kann. Die Scheiße anzunehmen, die an mir hängt, wie Böses. Denn nur die Bilder gehören der Vergangenheit an. Nicht so die Gefühle, die ich hatte, die heute tumbe Erinnerung sind, die aber mein Herz eng machen und mir manchmal noch die Luft nehmen. Über die ich jetzt einmal sprechen muss, damit sie ihre Macht verlieren über mein Leben. Denn, ohne dass ich es mir je eingestand, haben sie mich regiert. Angst hat mich regiert. Scham. Ich bin über 14 mal umgezogen. Die Abstände werden immer kürzer. Dieses Mal, jetzt, möchte ich nach drei Monaten schon wieder weg. Umziehen. So, wie ich mir immer zu warme Jacken kaufe. Zum Weggehen, um gerüstet zu sein. Jetzt ist Schluss mit allem. Ich werde jetzt nicht mehr weglaufen. Es ist interessant, wenn ich mir das Wort Weg laufen angucke, liegt darin der Weg, den ich laufe. Ich möchte aber jetzt, wenn überhaupt einen richtigen Weg laufen, einen, der mir Spaß macht, den ich freiwillig unternehme und nicht, weil ich auf der Flucht bin vor meinen Erinnerungen. Also, klar ist, das ich mir selbst begegne, wenn ich den schwarzen Mann sehe. Er ist ich. Ich bin es selbst, der ich begegne. Und dass, was da von mir steht, ist das grauenvolle Erlebte, was ich nicht angenommen habe, dem ich noch nicht ins Gesicht geschaut habe, so lange, bis ich mir sagen kann, "hey, du bist zwar ein hässliches Gesicht, aber eben nur ein beknacktes Gesicht, ja? Nicht mehr und nicht weniger." Ich habe immer so irre Angst vor Gesichtern. Seit knapp 28 Jahren habe ich Angst vor Fratzen. Als meine Mutter sich mal über mich beugte, in einem - dem einzigen - Anflug von mütterlicher Nähe, über mich, als ich flach im Bett lag, da ist mir der Angstschrei im Hals stecken geblieben. Ich war schon selbst Mutter und sah ein mir unbekanntes Gesicht. Ein unerwartetes, sollte ich sagen. Es war auch wieder ein Gesicht, vor dem ich solche Angst hatte. Ich brauchte Zeit um mich zu fangen. Meine Mutter war erschreckt und sie tat mir Leid, dass ich so arg reagiert hatte. Sie hatte eine ganz andere Reaktion erwartet.
 
Gut, jetzt mal Butter bei die Fische. Ich kann nicht ewig um den heißen Brei herum lamentieren.
 
Ich war 18 oder 19. Ging noch in die Oberstufe. In den Winterferien fuhr ich mit ein paar Leuten ins Hochsauerland. Es lag viel Schnee und war ziemlich kalt. Tagsüber war ich an der Bob-Bahn oder im Ort unterwegs. Einmal waren wir auch im Kino. Abends sollte in einem Privathaus eine große Sylvester-Party steigen. Anfang der Achtziger wurde noch mächtig gefeiert, wie man so sagt. Es ging ziemlich wild und laut her. Es war eine unübersichtlich große Zahl an Menschen im ganzen Haus verteilt. Auf allen Etagen wurde gefeiert, vom Keller bis zum Dachboden, überall waren Menschen am Gröhlen, Essen, Trinken, Tanzen, das halbe Sauerland unter dreißig war hier auf den Beinen, wie es schien. Sicher gab es auch Drogen, aber davon hatte ich zumindest nichts gesehen. Da ich selbst davon keine Ahnung hatte, und bekannt war, bei den Menschen, mit denen ich zusammen war, dass ich selbst mit Alkohol keine Erfahrung hatte, da er mir einfach nicht schmeckte. Ich rauchte ganz gerne. Das war schon alles. Ich fand es an dem Abend cool, mit einem Whiskey-Glas in der Hand herum zu wandern, schaute in diesen und in jenen Raum, tanzte hier mal und ging dann wieder kurz nach draußen. Draußen war es kalt, fast so kalt, wie in den Schlafräumen, nur in den Party-Räumen war es schön warm. Als es zwölf war, standen alle draußen und stießen auf das Neue Jahr an. Ich sah meinen Freund, wie er mit einer anderen herumknutschte, tippte ihm auf die Schulter, wobei er nicht reagierte, drehte mich um und kippte ein ganzes Glas Whiskey auf ex hinunter. Ein paar Typen hatten die Szene beobachtet. Ich weinte. Dann tanzte ich wie wild einige Zeit, so schnell, dass niemand meine Tränen sehen sollte. Klar, mein Freund knutschte mit einer, die nicht so üppig war, wie ich, die lange blonde Haare hatte und lachte. Ich hatte immer Probleme mit meinem Brustumfang von 120cm, der mich als 19jährige aussehen ließ, wie eine Schießbudenfigur, wie mein Freund mich manchmal nannte. "Du bist nur fürs Bett. Wenn ich mal ausgehen will, nehme ich ne Andere, klar?" sagte er mal, als ich "rumzickte". Ich lachte damals auch nicht. Mein Selbstbewusstsein war wegen dieser verhassten Angelegenheit mit meinen Brüsten ziemlich angeschlagen. Wenn ich meinen BH abmachte, zog es am Hals so doll, dass ich schnell machte, dass ich unter die Bettdecke kam. Selbstbewusstsein null. Eher Selbsthass. Sowieso schon, aber in der Zeit war es richtig schlimm. Alle glotzten immer nur auf meinen Busen. Besonders in diesen Tagen, da mich die Leute da im Sauerland ja nicht kannten. Sie guckten einfach auf meine Brust und einer stöhnte sogar mal laut dabei. Ich hatte die Schnauze voll. Ich ging zurück zu meinem Glas und kippte noch einen hinunter. Mir war jetzt schon schlecht. Ich füllte noch eines und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Ich torkelte bereits und schubberte an der rauen Wand entlang. Mir war jetzt extrem schlecht. Ich schaffte es in mein Bett und klappte weg. Ich wollte nur ein bisschen ausruhen und später wieder zurückgehen zum Tanzen, schwirrte es mir durch den Kopf und weg war ich. Irgendwann hörte ich Stimmen. Ich merkte nichts, erstmal. Nur irgendwann, dass mein Knie an die raue Wand schlug, meine Beine hin- und her bewegt wurden. Jemand bewegte auch meine Brust hin- und her. Die andere Seite auch. Mein Kopf schlug zur Seite gegen die Wand. Es war kalt an den Beinen. Im Gesicht war es auch kalt. Ich hörte Stimmen jetzt lauter. Ich sah Gesichter über mir. Ich merkte, dass jemand auf mir lag und meine Beine zur Seite drückte. Ich hatte keine Kraft. Das merkte ich auch. Es war aber immer ein anderes Gesicht dicht über meinem. Immer, wenn ich genug Energie hatte, die Augen auf zu machen und versuchte, zu gucken, war es ein anderes Gesicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es jetzt kalt und nass war, irgendwo an meinem Hals, auf der Brust, zwischen meinen Beinen. Einer schrie plötzlich irre laut. Ich hörte blanke Panik: "Mann, die kackt uns ab, Alter!" Eine andere Stimme: "Ach was, die hält was aus". Die erste Stimme wieder: "Mann, tickst du noch richtig? Die stirbt Mann, Alter, ruf den Notarztwagen! Alter! Schnell!!" Die andere Stimme wieder: "Stimmt, wenn die drauf geht, sind wir am Arsch, kennt uns doch jeder hier. Scheiße, Mann".
 
Mehr weiß ich nicht. Ich wachte im langen Flur des Krankenhauses kurz auf. Schrie so laut, bis kein Ton mehr kam. Ein Arzt kam und schrie mich an. Er gab mir sofort eine Spritze. Danach war ich zwei Tage weg. So richtig weiß ich nicht, wie lange ich nicht bei Bewusstsein war. Oder was in der Zeit passierte. Ich war weg. Wie tot. Einmal hörte ich eine Schwester ganz von Weitem, die irgendwas spritzte, in meinen Arm, die zu einer anderen sagte, "So eine ist das, sieht man ja schon gleich". Ich war allein. Alles war dunkel und kalt. Ich stand auf, hatte ein langes, riesengroßes Holzfällerhemd an aus Flanell an, was ich nicht kannte. Ich hatte eine Tigerfell-Unterhose an, die ich auch nicht kannte. Ich ging aus dem Zimmer, durch einen einsamen Flur, fand eine Hintertür zum Hof, und ging barfuss durch den Schnee zur Straße. Die Scheinwerfer eines Autos fielen auf meine nackten Beine. Meine Haare hingen mir ins Gesicht. Sie waren nass. Es schneite. Ein Mann hielt an. Ich stieg ein. "Können Sie mich zur Hauptstrasse fahren?" Er sagte nichts. Nur. "Ja." Ich stieg aus, fand das Haus wieder, drückte die Klingel. Eine dicke kleine Frau öffnete, guckte mich abfällig an, sagte nichts. Ich ging die Treppe hoch, fand das Zimmer wieder. Die anderen waren nicht mehr da. Meine Tasche stand dort am Boden, gepackt. Ich zog mir die eklige Unterhose aus, schob sie unter das Bett, zog eine Hose an, Socken, schmiss das Hemd weg, zog T-shirt und Pulli aus der Tasche, meine Jacke hing hinter der Tür, riss sie vom Haken, ging die Treppe runter, verließ das Haus. Ging zum Bahnhof, kleiner Bahnhof, stieg in einen Zug ein und fuhr. Ich weiß nichts weiter. Ich weiß, dass ich hässlich war, dass ich allein war, dass ich eklig war, dass ich stank, stinken musste, dass ich mich schämte. Ich schämte mich solange, bis ich alles weg gepackt hatte im Kopf. Ich verkaufte mein Pferd. Ich ging nirgends mehr hin. Auch in die Schule nicht. Das Semester wurde mir aberkannt. Irgendwann sah mich ein Lehrer, versuchte mich am Arm festzuhalten und versuchte auf mich einzureden, ich solle mein Leben nicht wegschmeißen, was mit mir los sei. "Ich weiß nicht, lassen Sie mich los. Fassen Sie mich nicht an!" Ich hatte Angst bekommen und lief weg. Obwohl es ein guter Lehrer war.
 
Ich wusste nicht, wie Recht er hatte. "Schmeiß dein Leben nicht weg. Es ist fast dreißig Jahre her und ich habe mein Leben irgendwie gelebt, immer am Rande der Angst, immer am Rande der Panik. Wenn mich jemand angesprochen hatte, war ich sofort Panik pur. Ich wollte nie von jemandem angesprochen werden. Ich fing eine Ausbildung an und wurde wegen der gleichen Geschichte mit dem Umsatz fördernden Dekolletée ewig zum Bar-Dienst eingeteilt. Morgens sollte ich die Gäste wecken. Gleich dreimal hintereinander den gleichen Mann, bis er endlich ins Telefon stöhnte, dass er komme. Ich kam aus dem Busch, kannte nicht viel außer meinem Dasein mit Pferd und Hund und der Heide. Kam aus einem überalterten Akademiker-Haushalt, in dem man nicht mal über die Menstruation sprach, geschweige denn, andere Wörter als "sich dolle liebhaben" kannte und dann kommt ein Kindchen nach neun Monaten. Ich war so dermaßen blauäugig in dem Alter noch, einfach unvorstellbar! Als ich mich bei meinem Oberkellner beschwerte, sagte der: "Dann geh doch zum Chef, wenn du dich beschweren willst." Tat ich. Der grinste: "Wenn die Gäste dich so nett finden, sei doch froh. Wenn sie dich mal aufs Bett schubsen, hab dich nicht so. Passiert doch nichts. Sei doch nicht so prüde. Denk an dein Trinkgeld, Mädchen!" Der Oberkellner grinste, die ganze Küchen-Mannschaft war am Juchen und der Koch rieb sich den Bauch. Der Oberkellner trank abends viel und meinte dann zu mir, ob ich ihn nach Hause fahren könne, er zwinkerte mir zu: "Der Chef meint, du gehörst mal richtig durchgefickt." Ich haute wieder ab.
 
Zuhause brach ich mir erst mein Bein, dann meinen Arm, Zeiten der Besinnung, wie meine Eltern das nannten. Sie hatten ja KEINE Ahnung. Ich war immer noch völlig von der Rolle. Keine Orientierung. Schwere Depression. Suizid-gefährdet mittlerweile. Mein Bruder fuhr mich zur Psycho-Tante. Die guckte meine Riesen-Brüste an und verkaufte meiner Mutter ein Psycho-Buch "Animas verletzte Seele" oder so ein Schinken. Alle versuchten, fortan nicht mehr auf meine Oberweite anzuspielen. Es wurde ein klein machender BH gekauft. 85DD. Toll, ich war immer noch ein Zirkuszelt.
 
Traf meinen Freund von damals wieder, lief an seiner Hand fortan herum, wollte einen Ring, war wie eine Schlafwandlerin, konnte nicht mal alleine in eine "größere" Stadt fahren. Nicht allein, auf Straßen und Plätzen unterwegs sein. Einmal war ich allein in Hamburg unterwegs, ein Mann steuerte auf dem Gehweg auf mich zu, rieb sich an meiner Brust und stöhnte dabei. Das passierte mir auch in Hannover. Ich wollte durch eine Kaufhaus-Tür, ein Mann hielt sie so, dass er sich an mich quetschen konnte, fasste von hinten an meine Brust und stöhnte laut. Ich war jedes Mal einfach nur erstarrt. Wie eingefroren. Einmal stellte mein Frisör mir einen Mann vor. Der sah mich an und lächelte. Mein Frisör ging auf die Toilette. Der Mann war sehr sympathisch. Er fragte mich: "Wenn du arbeiten möchtest, dann kann ich dir eine Wohnung zur Verfügung stellen. 200m², alles in ganz in weiß. Auch ein weißer Flügel steht darin. Sag mir Bescheid, ob du Lust dazu hast." Zuerst wusste ich sogar nicht, was er meinte damit. Gott, ehrlich, das Trutchen vom Lande. Ich bekam zu der Zeit noch einen roten Kopf. Als mein Frisör wieder kam, sagte ich schnell "Tschüss und danke für das Getränk", so blöd war ich damals noch. Mich zu bedanken. Fortan ging ich nur noch mit meinem Freund in die Stadt. Sogar zum Frisör kam er mit und saß im Sofa, bis ich fertig war. Ich hatte mir ein Gute-Laune-Gesicht zugelegt. Schminkte mich immer sehr stark. Trug eine Brille mit dunkel getönten Gläsern, trug viel großen Schmuck, lachte laut. Immer zu laut. Hing wie eine Klette an meinem späteren Mann. Wie Kaugummi. Ich machte dann eine gute Ausbildung. Vier Semester an einer Sprachenschule mit einem IHK-Abschluss und später fand ich beruflich tatsächlich meinen Weg. Mein Mann zunächst war meine Rettung. Er wurde mich nicht los, konnte machen, was er wollte. Ich blieb immer bei ihm. Er fing an, mich schlecht zu behandeln, weil ich so klettig war, aber er wurde mich nicht los. Später gelang es ihm. Es war eine Ross-Kur. Er bekam außerehelich Kinder. Ich haute wieder ab. Wie immer. Aber jetzt hatte ich schon Kinder. Hinter ihnen konnte ich mich verstecken. Sie gaben mir Schutz. Das war gut für mich. Und jetzt ist alles besser. Wahrscheinlich ist jetzt alles gut.
 
Die Kerle wissen ja auch nicht, was sie damit anrichten, dass ich mich zum Beispiel lebenslang ausgeliefert fühle. Dass sich die Leute wundern, dass ich so viel geschehen lasse, bis ich endlich reagiere. Dass ich mich in einer Art Starre befinde, dann, dass habe ich ja erst lange später bemerkt. Das ist irre. Und dass ich immer Schutz suche bei demjenigen, den ich liebe. Er soll mich beschützen und behüten. Wie ein Vater, oder, besser, wie mein Großvater. Er soll mich heile bleiben lassen. Und das geht ja gar nicht, egal wie klettig ich bin. Mein Partner ist ja auch nur ein Mensch, kein Über-Beschützer. Ich klette so sehr, dass die Menschen, die ich meine zu lieben, wahrscheinlich gar nicht anders können, als abzuhauen. Und die, die ich eher als Freund ansehe, die nicht unter diesem Anspruchsdruck von mir stehen, mich beschützen zu müssen, mit denen komme ich gut klar. Da eskaliert das nicht. Dieses Haben-Wollen, Schutz-haben-Wollen, nicht Ausgeliefert-Sein-Wollen, alles genau wissen und gesagt und erklärt bekommen, was gerade passiert in der Beziehung, damit ich einschätzen kann, was gerade geschieht, ob ich das steuern kann, oder, ob was mit mir passiert, gemacht wird, was ich so nicht will. Kann ich das noch einschätzen? Ist das für mich noch kontrollierbar? Ist mein Partner noch bei mir? Ist er für MICH? Gibt er MIR Schutz, ist er verlässlich? Bleibt er da? Lacht er über mich? Ist da wieder was im Dunkeln, was ich nicht sehen kann? Das sind alles viel zu viele Fragen auf einmal für einen Partner, und noch dazu, wenn sie von mir täglich gestellt werden. Ich brauche ganz viel Sicherheit, Erklärungen, Ruhe und Gleichmass. Wenn das nicht da ist, gestört ist, wenn der Partner labil ist, dann wird es auf lange Sicht wackelig für mich. Obwohl ich - für andere - sehr stabil wirke. So im alltäglichen Leben, ja, bin ich wohl. Aber in der Partnerschaft brauche ich einen kalkulierbaren Mann, einen, der einen klaren Kurs fährt, den ich einschätzen kann. Körperlich geht man ja nicht kaputt, wenn man sich nicht wehrt, wenn Leute mit einem Sex haben. Und ich konnte mich ja nicht wehren. Aber dieses Gefühl, das etwas mit mir gemacht wurde, das werde ich einfach nie wieder los. Das überfällt mich manchmal so irre wahnsinnig stark, dass ich fast kaputt gehe daran. Jetzt kann ich endlich mal weinen, grad. Passt nicht so zu mir. Mein zweiter Mann nannte mich Pokerface. Ich weiß nicht, ob es hilft, dass ich das jetzt aufgeschrieben habe. Solange meine Eltern noch lebten, konnte ich nicht darüber sprechen. Und es weiß auch niemand. Außer der Person, der ich vertraute.
 
Aber es ist, glaube ich wirklich so, wie ich es immer dachte: Wenn du voller Dreck und Pech bist, dann darfst du das auf gar keinen Fall jemandem erzählen. Die Leute haben Angst vor dir. Sie wollen mit dir nicht wirklich was zu tun haben. Ich werde das nie mehr jemandem erzählen. Ich werde mich daran halten, immer fein zu lächeln. Es ist immer ein Bumerang, wenn du erstmal anfängst, anderen das Schlimme zu sagen, was dir passiert ist. Du musst das mit dir selbst klar machen. Es geht nur dich was an. Die anderen ekeln sich irgendwie vor einem. Es ist übermenschlich, von anderen das zu verlangen, was du ja selbst nicht bringst: Verstehen. Verstehen kann das keiner. Dafür gibt es dann den schwarzen Mann. Und wenn du dich selbst damit beschäftigt hast, mit dem Pech und der ganzen Angst, dann geht er vielleicht weg.
 
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