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Ein Montag an der Uni

copyright: © Hans Krech, April 2o14


Es ist sieben Uhr morgens. Im mit dunklem Holz getäfelten Wilhelm-Pieck-Saal versammelt sich die FDJ(1)-Gruppe der jungen Wissenschaftler der Sektion Geschichte/Staatsbürgerkunde der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dieser Saal im Tschernyschewski-Haus war zwischen 1933 und 1945 das protzige Arbeitszimmer des faschistischen Gauleiters der NSDAP, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehende Turm der Moritzburg diente als Luftschutzbunker. Zu diesem Zweck waren die Wände mit Beton verstärkt worden, der bei dem Umbau des Turmes zum Studentenclub Anfang der siebziger Jahre unter großen Mühen wieder entfernt werden musste. Der Gauleiter hat im Turm in den letzten Kriegstagen Selbstmord verübt, bevor amerikanische Truppen Halle befreiten.
 
Etwa fünfzehn junge Forschungsstudenten und Assistenten sitzen auf den mit hellem Leder bezogenen Stühlen des Wilhelm-Pieck-Saales.
Eine Stunde lang Auswertung des jüngsten SED(2)-Plenums.
"Jugendfreunde, das Plenum stellt uns jungen Wissenschaftlern neue hohe Aufgaben...weist uns Wege, wie wir zur Stärkung des Friedens und des Sozialismus beitragen können. Verpflichten wir uns zur höheren Planerfüllung...Ja, Jugendfreund K.", beendet der FDJ-Sekretär seine halbstündigen Ausführungen zum Plenum, "du willst gewiss eine Verpflichtung abgeben."
Jugendfreund K.: "Ich verpflichte mich, die Lehren des Plenums in Forschung und Lehre intensiv zu berücksichtigen, effektiver zu arbeiten, den Klassenstandpunkt unserer Partei stets durchsetzen zu helfen. Meinen wissenschaftlichen Aufsatz über die 'Haltung der Sozialistischen Internationale zu den Problemen im Nahen Osten' werde ich einen Monat vorfristig einreichen."
Jeder der Anwesenden steht auf, bekundet seine Zustimmung zum Plenum und verpflichtet sich, seine Arbeit zu verbessern.
 
Neun Uhr. Die SED -Parteigruppe des Wissenschaftsbereiches Allgemeine Geschichte hat sich im Gebäude in der Heinrich-und-Thomas-Mann-Straße versammelt. Eine Stunde Auswertung des SED-Plenums.
Parteisekretärin: "Genossen, das Plenum stellt uns neue hohe Aufgaben...weist uns Wege, wie wir zur Stärkung des Friedens und des Sozialismus beitragen können...Verpflichten wir uns zur höheren Planerfüllung."
Genosse K.: "Ich verpflichte mich, die Lehren des Plenums in Forschung und Lehre intensiv zu berücksichtigen, effektiver zu arbeiten, den Klassenstandpunkt unserer Partei stets durchsetzen zu helfen. Meinen wissenschaftlichen Aufsatz über 'Die Haltung der Sozialistischen Internationale zu den Problemen des Nahen Ostens' werde ich einen Monat vorfristig einreichen."
Alle anwesenden SED-Parteimitglieder stehen auf, bekunden ihre Zustimmung zum Plenum und verpflichten sich, ihre Arbeit zu verbessern.
 
Zehn Uhr dreißig. Die FDGB(3)-Gewerkschaftsgruppe des Wissenschaftsbereiches Allgemeine Geschichte hat sich in der Bibliothek des Institutes versammelt. Es ist derselbe Personenkreis wie bei der vorhergehenden Parteiversammlung, nur ergänzt durch die Bibliothekarin, den Hausmeister und die Pförtnerin.
Gewerkschaftsgruppenorganisatorin: "Kolleginnen und Kollegen, das Plenum stellt uns neue hohe Aufgaben..."
Jede Kollegin und jeder Kollege stehen auf, bekunden ihre Zustimmung zum Plenum und verpflichten sich, ihre Arbeit zu verbessern.
 
Dreizehn Uhr. Im Wissenschaftsbereich Geschichte des Sozialistischen Weltsystems, der Völker der Sowjetunion und der KPdSU(4) in der Nähe des Rosa-Luxemburg-Platzes versammeln sich die DSF(5)-Mitglieder der Sektion.
Vorsitzender der DSF: "Freunde, das Plenum stellt uns neue hohe Aufgaben..."
Herr Dr. K.: "Ich verpflichte mich..."
Jedes anwesende DSF-Mitglied steht auf, bekundet seine Zustimmung zum Plenum und verpflichtet sich, seine Arbeit zu verbessern.
 
Siebzehn Uhr. Versammlung der GST(6) im Wilhelm-Pieck-Saal. Anwesend sind die jungen Wissenschaftler der Sektion.
Vorsitzender: "Kameradinnen und Kameraden, das Plenum stellt uns neue hohe Aufgaben..."
Kamerad K.: "Ich verpflichte mich..."
Jede Kameradin, jeder Kamerad stehen auf, bekunden ihre Zustimmung zum Plenum und verpflichten sich, ihre Arbeit zu verbessern.
 
Zwanzig Uhr. Wieder Wilhelm-Pieck-Saal. Versammlung der APO(7) der Sektion Geschichte/ Staatsbürgerkunde. Alle Genossen sind anwesend.
APO-Sekretär: "Genossinnen und Genossen, das Plenum stellt uns neue hohe Aufgaben..."
Genosse K.: "Ich verpflichte mich..."
Alle Genossinnen und Genossen stehen auf, bekunden ihre Zustimmung zum Plenum und verpflichten sich, ihre Arbeit zu verbessern.
 
Spät abends komme ich nach hause, völlig abgewrackt, unfähig noch etwas am Schreibtisch zu tun. Abendbrot, waschen, schlafen. Todmüde vom Reden über die Arbeit. Ein ganz normaler Montag des Jahres 1984.
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     1) Freie Deutsche Jugend, Jugendorganisation der SED
     2) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, trägt heute den Namen Die Linke.
     3) Freier Deutscher Gewerkschaftsbund
     4) Kommunistische Partei der Sowjetunion, 1991 aufgelöst.
     5) Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft
     6) Gesellschaft für Sport und Technik, paramilitärische Organisation im Vorfeld der NVA
     7) Abteilungsparteiorganisation der SED

 
Quelle: Krech, Hans: Mein Halle - Literarisch-historische Stadtansichten, Berlin 2006, S. 108-109.
copyright © by: Hans Krech, Dezember 2oo6).
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Hans Krech

Autor aus Hamburg


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