Die Auktion

       copyright: © Leo Dyogenes, Juli 2oo8

Ich saß im ICE, morgens, auf dem Weg zur Arbeit, einem alten Herrn gegenüber. Dieser sagte plötzlich und unvermittelt:
 
"Ich bin mal von einem Zug überrollt worden!"
 
Wirklich, ganz unvermittelt. Ich blickte an ihm herunter, aber es war ihm nichts anzusehen. Und seine Bemerkung kam so überraschend und irgendwie sinnlos. Plötzlich sagte ein ebenfalls älterer Herr neben mir:
 
"Ich bin mal mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug gesprungen."
 
Na und? Was hatte das mit dem Zug zu tun? Ich war nun sehr irritiert. Dann bemerkte ich, dass diesem Mann ein Bein fehlte. Er wiederum bemerkte meinen Blick und fuhr fort:
 
"Dummerweise bin ich auf einer Miene gelandet!"
 
Ich wand mich geniert ab. Der Herr mir gegenüber aber nickte anerkennend.
 
"Alle Achtung!" sagte er.
 
Ich blieb sprachlos. Da gesellte sich auch noch eine alte Dame von der Sitzreihe daneben zu unserer Gruppe, denn es war ja noch ein Platz frei.
 
"Ich habe als Trümmerfrau schwer geschuftet!"
 
Die beiden Herren nickten ihr anerkennend zu. Ich blieb sprachlos. Von der Situation einfach überrascht und eindeutig überfordert. Das lange Schweigen in der Gruppe machte mir klar, dass ich nun wohl an der Reihe war. Der Auktionator hielt den Hammer in der Hand und wartete auf das nächste Angebot. Doch was hatte ich zu bieten? Bei dieser Auktion konnte ich nicht den Arm heben. Hatte nicht mal mitbekommen, um was eigentlich gesteigert wurde. So blieb mir nur die wortwörtliche Flucht nach vorn, denn glücklicherweise rollte der Zug soeben in meinen Zielbahnhof ein.
 
"Und ich muss hier raus!" sagte ich mit trockenem Mund. Dennoch nickten mir alle drei anerkennend zu und ließen mich durch nach draußen. Auf dem Bahnsteig atmete ich erst mal tief durch. Was war das? Und war es wirklich? Ich bemerkte, dass mich die Gruppe durch das Fenster musterte, bis der Zug sich an mir vorbei in Bewegung setzte.
 
Oder hatte ich bei der Auktion doch gewonnen?

Leoc Dyogenes

Facebook-worker mit schnurriger Beobachtungsgabe.

Weitere Texte von Leo Dyogenes:

Treppenhaus
Waschmaschine

Weitere Autoren: