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Das verwunschene Treppenhaus

       copyright: © Leo Dyogenes, Juni 2oo8

Wir wohnen im fünften Stock. Natürlich ohne Aufzug. Natürlich im Altbau, wo die Etagen so hoch sind. Ein Aufstieg zu uns lohnt sich also für Po, Oberschenkel und Lunge. Ein besonderes Vergnügen, wenn man die Wohnung verlässt und unten angekommen bemerkt, dass man beispielsweise das Handy hat oben liegen lassen und es unbedingt am Tag braucht. Für den Müll geht man nicht mal eben runter, um eine Tüte weg zu bringen. Nein. Die Tüte wird vor die Tür gestellt und entsorgt, wenn man eh runter muss. Überhaupt überlegt man sich bei jedem Auf- oder Abstieg gründlich, ob man was vergessen hat.
 
Vergessen können wir den Wunsch nach Hilfe, wenn wir jemals wieder aus dem Haus ausziehen wollen. Das haben uns schon alle Freunde gesagt, die beim Einzug beteiligt waren. Zwei von denen waren nach dem Einzug - was nun bereits mehr als 5 Jahre her ist - nicht einmal mehr zu Besuch. Bruno, der in der Nähe wohnt, haben wir schon oft unten auf der Straße getroffen und gefragt: "Willst Du einen Kaffee bei uns?"
 
Doch wir ernten immer ein süffisantes Lächeln, der Blick nach innen gekehrt, die Erinnerung an die Plackerei mit den Kartons in den nicht enden wollenden Etagen, dann ein "Nee, danke, ein andermal!"
 
Im Erdgeschoss befindet sich eine Pension. Stört ja keinen. Nur leider klingeln die Gäste, wenn sie nicht ins Haus kommen, vorzugsweise bei uns. Genau wie die Jungs, die regelmäßig die Briefkästen mit Reklame voll müllen. Die klingeln mit Vorliebe möglichst weit weg. Also oben. Und wir haben keine Gegensprechanlage. Daran gewöhnt man sich. Und da unangemeldet eh kein Besuch zu uns kommt, haben wir uns abgewöhnt, die Tür zu öffnen. Der Postbote würde eh nie bei uns klingeln. Dann müsste er ja hoch kommen, was er lieber durch Einwurf einer Zustell-Karte im Briefkasten abwendet. Diese Karten, wo drauf steht, dass man sich die Post doch bitte selbst abholt. Machen wir. Aber dafür gehen wir nicht extra runter. So etwas erledigt man, wenn man den Müll runter bringt.
 
Es geht also außer uns kaum jemand ganz nach oben, um den Gesamtüberblick über das Treppenhaus zu haben. Das verwunschene Treppenhaus. Denn es gibt da so ein paar Eigentümlichkeiten.
 
Manchmal läuft man und läuft und wundert sich: wie? Schon oben? Dann wieder ist man völlig außer Puste und fragt sich: Müsste ich nicht schon längst oben sein? Wieso erst die dritte Etage? Denn wir steigen ja nicht bewusst die Stufen hinauf. Vielmehr beschäftigt man sich geistig mit ablenkenden Themen wie "Was gibt es heute zu essen? Muss ich noch mal runter zum einkaufen? Oh-nein-oh-nein." Und so haben wir irgendwann mal die Theorie entwickelt, dass das Haus manchmal eine Etage mehr hat, manchmal eine weniger. Vielleicht am Mondzyklus orientiert, vielleicht auch nur nach Lust und Laune, je nachdem, wie der Tag so war und wie gut das Haus so drauf ist.
 
"Unsinn" meinen Sie? Dachten wir auch.
 
Ich habe dann mal eines Tages die Treppenstufen gezählt. Es waren 96. Und dieses Ergebnis habe ich Tage darauf einem Besucher mitgeteilt, bevor wir gemeinsam hinauf gingen. Er stöhnte. "Ich muss jetzt 96 Stufen rauf?" Ich konterte "Du jetzt. Ich immer!"
 
Doch oben überraschte er mich mit den Worten: "Ich habe 104 gezählt!"
 
Ich reagierte bockig, schließlich bin ich schon ein großer Junge, der bereits bis 100 zählen kann. Trotzig behauptete ich, dass das nicht sein könne.
 
Natürlich habe ich beim nächsten Aufstieg nachgezählt. Auf dem Weg nach unten denkt man an so was nicht. Da steckt keine Anstrengung hinter, sich der Schwerkraft hinzugeben und die Stufen hinab zu sinken. Aber auf dem Weg nach oben, der unweigerlich irgendwann jedem Abstieg folgt, da hat man Zeit. Da fordert das Gehirn nach Ablenkung. Ich zählte. 104. Tatsächlich. Ungläubig. Aber gut. Hatte ich mich also verzählt. Und genau deshalb wiederholte ich die Volkszählung von Stufen in einem Treppenhaus auch gleich bei der nächsten Runde. Ich war wenig verblüfft, als das Ergebnis 88 lautete. Ein Unterschied von 16 Stufen. Viel zu wenig, um eine ganze Etage auszumachen. Aber viel zu groß, um sich mit der Erklärung "hab ich mich wohl verzählt" heraus zu reden.
 
Aber was wäre eine Erklärung?
 
So habe ich noch einige Male gezählt. Fast schon stolz und zufrieden war ich, wenn sich mal eine Zahl wiederholte. Inzwischen, so muss ich zugeben, habe ich aber einfach aufgegeben. Es ist so: Manche Treppen-Aufstiege scheinen nicht länger zu sein, sie sind einfach länger.
 
Wenn wir beispielsweise stark angeheitert von einer Party kommen und dann vor dem Aufstieg erst mal ehrfürchtig vor den ersten Stufen stehen. "Sollen wir wirklich hoch? Oder übernachten wir im Treppenhaus?"
 
An diesen Abenden kommt uns das auch schon mal sehr entgegen. Stark angeheitert steht man unten. Völlig besoffen kommt man oben an. Denn die 88 bis 104 Stufen sind anstrengend. Sie bringen den Kreislauf in Schwung. Treiben den Alkohol ins Blut. Wenn der Puls hinter den Schläfen hämmert, zählt jede Promille zehnfach. Es gab tatsächlich Tage, da konnte ich mich nicht erinnern, dass ich am Abend zuvor oben im 5. Stock angekommen bin. Würde man einen Blackout nennen. Aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich im Erdgeschoss losgelaufen bin. Was ist da passiert? Hat sich das verwunschene Treppenhaus gnädig gezeigt und vielleicht einfach eine Abkürzung für uns geschaffen? Erster Stock - zweiter Stock - fünfter Stock?
 
Mein Vater verfasste hierzu den Reim: Euer altes Treppenhaus denkt sich ständig neue Treppen aus.
 
Bei solchen Theorien bezweifle ich dann, dass ich jemals wieder ein Bild in der Wohnung aufhängen werde. Schließlich müsste ich dazu einen Nagel in die Wand schlagen. Das Haus könnte sich rächen. Und das Ergebnis könnte sein, dass wir zukünftig immer die vollen 104 Stufen haben. Ob angeheitert oder nicht.


Leo Dyogenes

Facebook-worker mit schnurriger Beobachtungsgabe.


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