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Die kleine Schneeflocke

       copyright: © Steffi Mayer-Teegen, 2oo9

Sie war eine ganz kleine Schneeflocke, so eine von der Sorte, wie Väterchen Frost sie zur Erde schickt, wenn es ganz besonders knackig kalt wird. Die dicken, schweren Schneeflocken mit den tollen Kristallmäntelchen aber lachten über die kleine Schneeflocke und ihre schlichte, mickrige Form. Doch irgendwo tief in ihrem Innern wusste die kleine Schneeflocke, dass ihr Leben intensiver und vielleicht sogar bedeutsamer sein würde als das der dicken Angeber, eben wegen des strengen Frostes, den sie begleiten durfte.
 
Die vielen dicken Schneeflocken waren alle längst schon verschneit, als Väterchen Frost eines Morgens die kleine Schneeflocke mit auf seinen Wagen lud. An diesem Tag waren die Eiszapfen in seinem Bart ganz besonders lang und sein Gang klirrte. Die Reise ging nach Sibirien ans hinterste Ende der Welt, dorthin, wo niemand mehr leben mochte wegen der unbeschreiblichen Kälte, die dort herrschte. Für Schneeflocken war dieses Fleckchen Erde das Paradies, denn dort lebten sie viel länger als irgendwo sonst auf der Welt. Väterchen Frost lud die kleine Schneeflocke mit einigen anderen auf der Spitze eines dürren Geästes ab, das wohl mal eine Tanne hatte werden wollen, wegen der ungünstigen Witterung jedoch verdorrt war.
 
Schon bald musste die kleine Schneeflocke erfahren, dass das Leben hier in Sibirien nicht besonders spannend war. Genauer gesagt, es war eine endlose Vor-sich-Hin-Döserei und ein ewiges Warten darauf, dass endlich irgend etwas passieren möge - egal was, Hauptsache, es durchbräche dieses ewige Nichts. Das Leben hier schien bestimmt zu sein von Bedeutungslosigkeit - und dabei wollte die kleine Schneeflocke doch so gerne etwas Bedeutsames tun.
 
Es war eine der kältesten Dezembernächte, so kalt, dass selbst die Schneeflocken dicht zusammen rückten, um nicht so arg zu frieren. Da wurde es am schwarzen Nachthimmel plötzlich hell. Ein greller Stern mit einem langen Schweif schoss von Norden nach Süden über das Firmament. Der Stern selbst war schon längst wieder hinter dem Horizont verschwunden, da stand sein Schweif immer noch am Nachthimmel. Wie die Fluten eines Flusses aus reinem Gold breitete sich das Licht des Sternenschweifes aus und floss in großen Wogen dahin. Der bloße Anblick dieses wunderbaren Schauspiels erwärmte das Herz der kleinen Schneeflocke.
 
Und dann, plötzlich, löste sich etwas aus dem Strahl, etwas Kleines, Helles, und es fiel genau vor der verdorrten Tanne ins kalte Weiß. Zunächst glaubte sie, es handle sich um einen ihrer Kameraden, doch dann erhob sich das Etwas, schüttelte sich prustend und entfaltete zwei herrliche, aber winzige Engelsflügel. Überhaupt war die Gestalt überaus klein, leuchtete aber wie eine sehr helle Laterne und warf einen warmen Schein in den kalten Schnee.
 
Der Kleine schimpfte ganz unhimmlisch und laut vor sich hin: "Ihr wollt Engel sein, eine rücksichtslose Bande seid ihr! Mit euch werde ich noch abrechnen!" Er erhob seine Faust gegen den Himmelsschweif, der langsam verschwand. "Den Teufel persönlich hetze ich euch auf den Hals, jawohl! Kruzifix Halleluja, ihr abtrünnigen Feiglinge, Lumpengesindel ...!"
 
Als sein Geschimpfe weniger wüst wurde, entnahm ihm die kleine Schneeflocke, dass der winzige Engel sich von der himmlischen Heerschar entfernt hatte und so vom gemeinsamen Weg abgekommen war: "Ich wollte doch nur einen ganz kleinen Abstecher zu diesem Kometen machen. Ich hab so was doch noch nie zuvor gesehen!", jammerte er. "Ihr hättet ja ruhig auf mich warten können! Habt ihr denn gar kein Verständnis für die Neugier eines kleinen Engels? Oh, wehe mir, halleluja, wie soll ich nun nach Jerusalem kommen, um über die Geburt dieses Königskindes zu jubilieren? Das gibt bestimmt einen himmlischen Ärger, wenn irgendein Kind wegen meines Fehlens nichts von diesem großen Ereignis erfährt! Oh, ich Ungesegneter, wo bin ich hier bloß gelandet?"
 
Sein Schluchzen klang jämmerlich und herzzerreißend, selbst für eine Flocke aus eisigem Schnee.
 
Der kleinen Schneeflocke tat er leid. Mit dem nächsten Windhauch ließ sie sich auf die winzige Nase des Engels tragen, auf der sie gerade so Platz fand. Zum ersten Mal war es richtig gut, so klein zu sein. Der Engel war viel zu verwirrt, um sich über die seltsame Gesellschaft zu wundern und begrüßte sie erfreut. In dieser Eiswüste fragt man nicht mehr nach der Art der Gesellschaft, und notfalls spricht ein Engel eben auch mit einer Schneeflocke.
 
"Warum fliegst du denn nicht einfach hinterher nach Jerusalem? Vielleicht kommst du ja noch rechtzeitig an!", versuchte die kleine Flocke das verzweifelte Engelskind zu beruhigen.
 
Da brach der Engel in ein so herzzerreißendes Schluchzen aus, dass der Schneeflocke ihr kleines Eisherz zu zerspringen drohte. "Oh, Asche auf mein Haupt, ich Unwürdiger! Ich habe in der Engelsschule beim Thema Navigation blau gemacht", jammerte er, "und nun muss ich hier wohl erfrieren. Ich finde ja nicht einmal den Weg zurück in den Himmel, um neu starten zu können. Welch unverzeihliche Schande!" Das steinerweichende Engelsschluchzen setzte wieder ein.
 
Einige eisige Augenblicke lang dachte die kleine Schneeflocke nach, doch dann wusste sie, was zu tun war.
 
"Hör zu, ich habe eine Idee," erklärte sie dem kleinen Engel. "Tief in mir drin ist der Weg zurück in den Himmel gespeichert - aber er kann nur ein einziges Mal abgerufen werden, nämlich dann, wenn ich schmelze. Dann wirft meine Seele den Eismantel ab und kehrt sicher in die himmlischen Gefilde zurück. Du musst mich nur zwischen deine warmen Hände nehmen, dann kannst du mir folgen, sobald ich geschmolzen bin und meine Seele frei fliegt."
 
Der kleine Engel war etwas verwirrt angesichts einer solchen Opferbereitschaft.  
"Worauf wartest du? Mach es ruhig!", ermunterte die Schneeflocke den zögernden Engel. "Weißt du, mein ganzes Eisleben lang habe ich hier herumgehangen und darauf gewartet, endlich einmal etwas Bedeutsames tun zu können. Du erfüllst mir meinen größten Lebenswunsch, wenn du mein Angebot annimmst!"
 
Es wurde so still, dass das Knistern des strengen Frostes deutlich zu hören war, und selbst der Atem der Schneeflocke hinterließ einen nebligen Hauch in der eisigen Luft. Der Engel sah sie etwas unsicher an, doch als sie sich von seiner Nase herab gleiten ließ und auf seine Hand fiel, umschloss er sie mit der anderen Hand.
 
Die kleine Flocke dachte an das Kind in Jerusalem, das wohl doch noch von dem großen König erfahren würde, dann merkte sie, wie sie zerfloss. Ihre freie Seele trat den Heimweg in den Himmel an, in Begleitung eines Engels. Was hätte sie sich Schöneres wünschen können?
 
 

       aus:"Himmelsflocken" von Steffi Mayer-Teegen,
       2oo9 Wunderwaldverlag, ISBN: 9 783 844 814 712,
       mit freundlicher Genehmigung der Autorin.


Steffi
Mayer-Teegen


Autorin in Hamburg


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